Auf der Insel der Kalypso

Am südlichsten Punkt von Europa

Die griechische Insel Gavdos ist ein Geheimtipp für Reisende, die ihre Wege abseits der Touristenströme suchen. Neben glasklarem Wasser und traumhaften Stränden ist die Insel durch ihre archaische Ursprünglichkeit ein einmaliges Erlebnis.

Text: Sigrun Höllrigl, erschienen am 14.7.2017 im “Wiener Journal”, der Wochenendbeilage der Wiener Zeitung.

 

 

Vor der Küste Süd- und Westkretas erhebt sich in der Ferne eine Insel aus dem Meer – Gavdos. Lange schon wollte ich diese Insel besuchen, zumal ich hörte, es gäbe dort wunderschöne Strände. Gavdos markiert den südlichsten Punkt Europas im Libyschen Meer. Zur afrikanischen Nordküste sind es lediglich 260 Kilometer. Die Insel ist über Fährverbindungen von Paleohora und Chora Sfakion zu erreichen.

 

Gavdos empfängt mich mit dem Duft von wildem Thymian und Oregano und fasziniert sogleich. Denn die Insel zeigt, wie das Leben in Griechenland vor 40 bis 50 Jahren war. In den Dörfern Vatsiana und Ambelos scheint die Zeit stehengeblieben zu sein. Steinhäuser mit kleinen Fenstern, ein paar Hühner, Ziegen und Schafe, ein wenig Gemüse- und Getreideanbau und Fischfang, davon haben die Menschen jahrhundertelang gelebt und tun es bis heute. Strom ist auf Gavdos noch immer keine Selbstverständlichkeit und wird auf der Insel vielerorts durch Photovoltaik gewonnen. Noch bis Mitte der 90er Jahre war die Insel nur mit einem kleinen Postboot zu erreichen. Seit Gavdos regelmäßig von Autofähren angelaufen wird, ist die Insel aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht. Mit den Fährverbindungen kam auch der Tourismus, wenngleich in bescheidenem Maße. Auch heute legen gefährliche Winde regelmäßig eben diese Fährverbindungen lahm. Gavdos galt deshalb lange als Geheimtipp des Alternativtourismus. Erst viel später entdeckten die Medien den Zauber der Insel. Der TV-Sender Discovery Channel kürte einen Strand auf Gavdos, Agios Ioannis, zu einem der schönsten Strände der Welt. Auch CCN brachte eine Dokumentation über die Insel, und 2012 fand eine Fotoausstellung über die Menschen von Gavdos in der Bibliothek von Utrecht statt.

Was durch Zivilisation verloren gegangen ist, führt uns Gavdos als in sich selbst versunkenes Reich vor Augen. Friede, Zeitlosigkeit und der Rhythmus des Meeres sind auf der Insel allerortens zu spüren. In den Pinien- und Zedernwäldchen, die einen Großteil der Insel bedecken, ist Odysseus allgegenwärtig.

 

Die Geschichte der Insel schrieben über Jahrhunderte die einlaufenden Schiffe. Sie veränderten auch die Namensgebung. Den größten Einfluss übte der Namen Ogygia aus. Ein griechischer Mythos besagt, dass die Insel, auf der die Nymphe Kalypso lebte, Ogygia hieß, und dieses Ogygia wird mit Gavdos in Verbindung gebracht. Die Nymphe soll im nördlichen Teil der Insel, in Lavrakas, in einer Grotte gehaust haben, wo sie mit Odysseus sieben Jahre verweilte. Lavrakas wurde aufgrund zahlreicher Funde zum archäologischen Reservat erklärt. Im Rahmen von Sommercamps der University of Crete wurden 63 Ausgrabungen auf Gavdos durchgeführt. Dabei stellte sich heraus, dass Gavdos bereits im Neolithikum besiedelt war. In der minoischen Zeit stellte die Insel einen strategischen Handelsposten auf der Seereise nach Ägypten dar. Gavdos war damals durch den Export von kostbarem Salz und Zedernöl bekannt. Bei Ausgrabungen fanden sich auch Siedlungsreste aus römischer Zeit, in der der Boden überkultiviert wurde, sodass ihm heute alles abgezwungen werden muss. In der byzantinischen Ära blühte die Insel erneut auf, bekam Provinzstatus mit Bischofssitz und zählte bis zu 8000 Einwohner. Im 16. Jahrhundert suchte der bekannteste Seeräuber des Mittelmeers, wegen seines roten Bartes Barbarossa genannt, auf der Insel Schutz. Weil die Piraten die Inselbewohner als Sklaven verkauften, blieb die Insel wenig besiedelt.

 

1928 schrieb Gavdos erneut Geschichte und zwar als Strafkolonie für politische Gefangene. Kommunistische Rebellen und Idealisten wie Aris Velouchiotis, Takis Fitsos oder Andreas Tzimas wurden unter Militärbewachung nach Gavdos ins Exil geschickt. Auch bekannte Schriftsteller wie Menelaos Loudemis und Themos Kornaros waren unter den 40 bis 180 Exilierten von Gavdos. Da viele in den höhlenartigen Behausungen starben, erkämpften sich die Exilierten auch über Hilfe von außen das Recht, ein Stück Land zu pachten, um ein Haus zu bauen und Gemüse anzupflanzen. 1931-34 wurde der „Palast“, wie ihn die Gefangenen nannten, im kretischen Stil mit Zedernholz und Steinen gebaut. Das Gebäude existiert heute noch und wird von der Athener Kunsthandwerkerin Eleni Tsabitsanou unter dem Namen „House of the Exiled“ originalgetreu in Schuss gehalten. Die Räume beherbergen eine Bibliothek und ein Café und können besichtigt werden. Im Sommer veranstaltet Eleni Yogakurse sowie ein Literatur- und Musikfestival. Die Strafkolonie auf Gavdos existierte von 1928 bis 1941. Als die deutschen Truppen anrückten, kam von Kreta her ein Schiff und nahm die Exilierten mit, um sie dem kretischen Widerstand zuzuführen. Gavdos war im Zweiten Weltkrieg besetzt, und die Einheimischen wurden zu Arbeitsdiensten zwangsverpflichtet. Eines der drei Steinhäuser von Ambelos diente den Nazis damals als Hauptquartier.

 

Heute gilt Gavdos als einer der wenigen Orte Griechenlands, wo wild campen noch erlaubt ist und dafür ist die Insel in der Szene hinlänglich bekannt. Im Sommer verwandelt sich die gesamte Insel in ein Zeltlager. Junge Leute strömen aus der ganzen Welt zusammen, um hier zu leben wie damals die Hippies, vor allem viele Griechen. Im August beherbergt Gavdos bis zu 2000 Gäste. Mit Camping und Freikörperkultur zieht die Insel Aussteiger und Individualisten an. Natürlich wird Marihuana geraucht, selbst wenn das niemand offiziell bestätigen möchte. Die Tavernen und Mini-Markets leben von dem kurzen Sommergeschäft. Man ist auf die Camper angewiesen. Bis heute gibt es auf der Insel kaum touristische Infrastruktur. Mit den Einheimischen und Althippies hoffen wir, es möge weiterso bleiben. Lediglich 150 Gäste können auf der Insel in Bungalows adäquat untergebracht werden.

Ab September wird es auf Gavdos wieder sehr still. Wer sich außerhalb der Saison auf der Insel bewegen möchte, fährt mit dem Schulbus, der die vier verbliebenen Kinder zur Schule bringt und dabei die gesamte Insel abklappert. Diese spezielle Art der Fortbewegung hat durchaus ihre Reize.
Viele Besucher der Insel erzählen von einer spezifischen Art von empfundener Isolation, die in dieser Form nur auf dieser Insel zu erleben ist. Am Horizont steigen die schneebedeckten Gipfel der Berge Kretas in den Himmel. Das Szenario erscheint unwirklich, als wären die Berge Theaterkulissen aus Pappmaché. Gleichzeitig kann man sich an dieser Kulisse nicht satt sehen. Die gut 60 Kilometer Distanz wirken kürzer als sie es tatsächlich sind. Und doch scheint Gavdos hinter der Welt zu sein, nur getrennt durch das Meer, und die richtige Welt, die wie eine Illusion aussieht, wirkt zum Greifen nah. Von den 100 Einwohnern verbleiben im Winter lediglich 30 auf der Insel. Alle anderen überwintern in Athen oder auf Kreta.

 

Manolis Vailakakis gehört zu jenen, die auch im Winter auf der Insel wohnen. Er ist auf Gavdos geboren und ging hier auch zur Schule. Seine Eltern bewirtschafteten einen kleinen Hof in Ambelos. Mit 14 Jahren wurde Manolis vom Vater weggeschickt und arbeitete ein Jahrzehnt im Mittelmeerraum als Auto- und Schiffsmechaniker oder als Fahrer von schweren Baumaschinen. Damals träumte er von der eigenen Taverne in seiner Heimat. Sein Freund Petros verließ die Insel schon im Alter von zwölf Jahren, um in Piräus am Hafen zu arbeiten. Auf Gavdos gab es damals keine Arbeit. Wie hart der Alltag war, ist heute noch deutlich zu sehen. Man braucht nur in die Dörfer Kastri, Ambelos oder nach Vatsiana zu fahren, um das karge Leben in den quaderförmigen Steinhütten hautnah zu erleben.

Mit 25 Jahren kaufte sich Manolis mit seinen Ersparnissen und dem Geld der Familie brachliegendes Land am Strand von Sarakiniko. Die Taverne und Fremdenzimmer baute er eigenhändig. Als er in den Wintermonaten Europa bereiste, lernte er in Wien seine Frau Gerti kennen, von der er inzwischen wieder getrennt lebt. Sein Sohn Nikos besucht derzeit die Tourismusschule in Wien. Manolis hat sich mit der Taverne auf Gavdos seinen Traum von Freiheit erfüllt.
Frühmorgens um sechs, sehr oft auch nachts, fährt er mit seinem Boot auf Fischfang. Ein Tag auf dem Meer sei ein schöner Tag, sagt er. Er lebe hier, weil ihn das Leben auf der Insel erfülle. Woanders würde er sich leer fühlen. Was er auf Gavdos erfahren habe, sei mehr, als ihm ein Studium in Athen gebracht hätte. Selbst ohne Strom, mit Kerzenlicht wäre er hier auf der Insel zufrieden. Man brauche und wolle auf Gavdos kein Business, auch keine Menschen mit Geld und auch keine Hotels. Gavdos solle einfach weiter so bleiben, wie es ist. Wie viele Griechen hat Manolis Alexis Tsipras gewählt und war enttäuscht, dass Griechenland in der EU verblieb. Im Grunde hält er nicht viel von Politikern und Staatsangestellten. Diese Menschen wüssten nicht, was es hieße, vor 50 Jahren mit einer Familie auf Gavdos ohne Strom zu leben. Was auf der Insel zählt, ist Arbeit mit den Händen. An Gott zu glauben, sei zwar gut, meint Manolis, aber das Leben müsse man sich selbst erarbeiten und regeln. Weniger Stress, das sei die Botschaft, die Gavdos an seine Besucher weitergebe.

Neben Einheimischen wie ihm haben sich auch einige Individualisten und Intellektuelle auf der Insel niedergelassen, die auf Gavdos ihr Paradies gesucht haben, so wie Eleni Tsabitsanou. Weiters lebt im Hauptort Kastri Stavros Ioannidis,ein Archivar, der das Gemeindeamt führt und auf den Spuren Krishnamurtis experimentelle Wege in die Zukunft sucht. Eine Gruppe von russischen Atomphysikern wohnt in der Nähe des Dorfes Vatsiana. Ihr Anführer Andrej ist in Tschernobyl verstrahlt worden und sucht auf Gavdos Heilung. Weil sie sich nützlich machen und alte Motoren und allerlei Geräte reparieren, wurden sie in die Inselgemeinschaft aufgenommen. Auch Radiojournalist Vassilis ist zugereist und hat sich auf Gavdos niedergelassen. Im Alleingang betreibt er Radio Gavdos 88,8 FM. Wenn es sein muss, klettert Vassilis Tzounaras für den Radiobetrieb auch auf den Sendemast.

 

 

Gavdos verzaubert jedoch vor allem durch seine unberührte Natur. Die Fauna ist einzigartig, da afrikanische und europäische Pflanzenarten gemeinsam auftreten. Die Insel beherbergt über 50 Arten seltener Zugvögel, die auf ihrem Weg zwischen Europa und Afrika auf der Insel Halt machen. Im Frühjahr ziehen sie in Schwärmen über die uralten Wacholder-, Pinien- und Zedernwälder. Einige markante Orte wie Tripiti, der südlichste Punkt Europas, sind nur zu Fuß zu erreichen. Gavdos gilt als Insel für Wanderer.
Unterhalb der Wasseroberfläche pulsiert das Leben aufgrund des Seegrases. Man kann in der Nähe der Insel Seeschildkröten, vier verschiedene Delfinarten und Pottwale finden. Zwischen Gavdos und der unbewohnten Nachbarinsel Gavdopoula liegt der Ort, an dem sich die Wale sammeln, paaren und vermehren. Auch die fast ausgestorbenen Mönchsrobben kann man auf Gavdos in entlegenen Buchten beim Sonnen am Strand beobachten. Und selbst dem Mond ist man am südlichsten Punkt Europas ein Stück näher als anderswo.

 

Copyright Sigrun Höllrigl